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Telefonmarketing eines Schwerverbrechers Vom Menschenhändler zum Stromverkäufer

Türkische Callcenter verkaufen im großen Stil Verträge von E.on, Vattenfall und RWE an deutsche Kunden. Die Methoden der Drücker sind zweifelhaft - und der Chef ist ein Ex-Rotlichtpate, der noch Jahre im Gefängnis sitzen muss.
Saban Baran

Saban Baran

Foto: SPIEGEL TV

Der Mann, der für deutsche Industrieriesen Verträge abschließt, trägt selten Anzüge. Jogginghosen und T-Shirts sind schon eher sein Stil. Auch sieht er nicht aus wie ein Geschäftsmann, er ist groß und breit und stiernackig, die mächtigen Arme sind tätowiert, die Haare kurz geschoren.

Saban Baran, 46, war einer der gefürchtetsten Rotlichtpaten Amsterdams, ein Schwerverbrecher, den Ermittler heute noch als den Frauenhändler und Zuhälter der Niederlande bezeichnen. "Er ist außerordentlich gewalttätig, furchterregend, einschüchternd. Ein sehr brutaler Mensch", sagt der niederländische Staatsanwalt Warner ten Kate.

Ein Netz von Callcentern

Wenn es nach ten Kate gegangen wäre, säße Baran seit vielen Jahren schon im Gefängnis. Stattdessen konnte der Zuhälter in der Türkei ein Netz von Callcentern aufbauen und mit äußerst zweifelhaften Methoden deutschen Kunden Energieverträge von E.on, RWE, Vattenfall und anderen Unternehmen am Telefon verkaufen. Wie kam es dazu?

Ein Team von SPIEGEL ONLINE und SPIEGEL TV hat sich monatelang mit dem Fall befasst, in der Türkei, Deutschland und in den Niederlanden recherchiert, Informanten getroffen, unzufriedene Kunden befragt, Ermittler kontaktiert. Daraus und aus mehr als 1000 internen E-Mails der Callcenter, aus Mitschnitten von Verkaufsgesprächen, Verträgen, Schulungsunterlagen, Fotos und Videos ergibt sich nun das Bild einer Vertriebsmasche, die unseriös zu nennen noch sehr freundlich formuliert wäre. Die Dokumente zeigen, dass Barans Callcenter-Agenten täuschen, lügen, beleidigen, ihre Opfer bedrängen und verhöhnen. Und dass deutsche Energiekonzerne offenbar nicht weiter nachfragten, wer den telefonischen Verkauf ihrer Verträge verantwortet.

Meist beginnen die Telefonate harmlos - und oft kosten sie den Angerufenen nicht nur Zeit, sondern am Ende auch Nerven und vor allem Geld.

Hören Sie hier einige Beispiele:

Die Telefonate folgen einem System, mit der dubiose Firmen versuchen, Kunden für deutsche Energieriesen zu werben. Eine zentrale Rolle spielt dabei Barans Callcenter der BC Telekomünikasyon, das er mit einem Partner gegründet hat und an dem er bis heute beteiligt ist.

Die Aufträge bekommt die BC nicht direkt von den deutschen Energieunternehmen. Zwischengeschaltet ist in einigen Fällen die Mittlerfirma TM Telefonmarketing in Bayern, die Aufträge etwa von E.on entgegennimmt. Tarifinfos und Daten potenzieller Neukunden werden internen Unterlagen zufolge den in der Türkei sitzenden Anrufern zugänglich gemacht. Am Telefon melden sich die Anrufer dann mit "Deutscher Energievertrieb" oder "Energysparks" - Firmen, die unter derselben Adresse zu finden sind wie TM.

Kampagnen für E.on und Co.

TM-Mitarbeiter in Bayern sammeln Daten von Bürgern mithilfe von Gewinnspielen, so jedenfalls stellt es das Unternehmen selbst dar: Name, Geburtsdatum, Telefonnummer, Postadresse - die Informationen tauchen später, säuberlich aufbereitet, auf den Bildschirmen der Anrufer in der Türkei auf.

In den Werbegesprächen versuchen Sabans Leute dann, Zählernummer und Bankdaten zu erfahren. Entscheidend ist, dass die Agenten irgendwann einen Mitschnitt starten, der einen Auftrag dokumentiert - damit ein Vertragsabschluss bewiesen werden kann.

Was daraus entstehen kann, hat Bernd Feuker erlebt. Der Arzt im Ruhestand nennt es schlicht Betrug, was ihm widerfuhr. "Ich wollte die schriftliche Bestätigung der Angaben und nichts anderes." Es sei ihm "überhaupt nicht" bewusst gewesen, dass er mit dem Gespräch einen Vertrag abgeschlossen hatte. Als er die Unterlagen per Post bekam, seien die Preise obendrein knapp 70 Euro höher gewesen als am Telefon versprochen. "Nichtsahnende Kunden so zu ködern, ist ein Unding." Feuker machte den Vorgang schriftlich rückgängig.

Auch Wolfgang M., ein pensionierter Polizist, sieht sich als Opfer. Eine BC-Agentin habe behauptet, sie rufe von seinem Versorger Braunschweig Energy an. "Es hieß, sie müssten den Tarif überprüfen, ich würde wahrscheinlich günstiger eingestellt", sagt der 78-Jährige. Auch er wollte eigentlich keinen neuen Anbieter, erhielt aber einen Eprimo-Vertrag mit denselben Konditionen wie bisher. Wenige Tage später erhöhten sich die Preise. Er widerrief. "Ich finde das ganz schlimm", sagt M. In der Verantwortung sieht er die Energieriesen. "Die wissen genau, wie die Callcenter arbeiten."

"Solche Methoden sind uns nicht bekannt"

TM-Geschäftsführerin Hannelore Picking wies in einem Interview vor laufender Kamera sämtliche Vorwürfe zurück. BC sei nicht unseriös. Man kontrolliere aus Bayern die Arbeit der Anrufer in der Türkei. "Natürlich passieren Fehler, die mahnen wir auch ab", so Picking. Es komme vor, dass Agenten entlassen werden.

Beschwerden aber seien Einzelfälle, die Mehrheit der Kunden sei zufrieden. BC-Mitgesellschafter Senan Cilesiz sagte zu dem Vorwurf, seine Mitarbeiter bedrängten Kunden, beleidigten und täuschten sie: "Solche Methoden sind uns nicht bekannt und werden von uns nicht toleriert."

Später teilten die Anwälte der TM, dass man sich an alle rechtlichen Vorgaben halte. In Bezug auf die BC Telekomünikasyon habe es nie Hinweise auf strukturelle Mängel gegeben.

Ein BC-Insider stellt die Anrufpraxis anders dar: Es sei üblich, zum Beispiel einen falschen Standort anzugeben. "Man ruft von Istanbul oder Ankara aus an, und man sagt: 'Herr Müller, ich rufe von Frankfurt aus an.'" Dazu zeige das Display eine deutsche Nummer. Den BC-Agenten sei "egal, was mit dem Kunden passiert". Es werde verkauft, "ohne Skrupel, ohne Gewissen". Für Baran sei Geld die Hauptsache, so der Insider. "Ob er die Kunden verarscht oder nicht verarscht, das ist ihm egal."

Baran ließ eine Anfrage unbeantwortet, sein Geschäftspartner und sein Anwalt teilten mit, er sitze inzwischen in Antalya im Gefängnis. Türkische und niederländische Justizbehörden bestätigten das nicht. Eigentlich muss Baran seine Haftstrafen aus Holland in der Türkei verbüßen. Türkischen Medien zufolge soll sich Baran in die Ukraine abgesetzt haben. Es wäre seine zweite Flucht.

Charme und Gewalt

Saban Baran tauchte um die Jahrtausendwende im Amsterdamer Rotlichtviertel auf. Innerhalb kürzester Zeit gelang es ihm, einen Zuhälterring zu erschaffen, wie ihn das Milieu der niederländischen Hauptstadt noch nicht gesehen hatte: Dutzende Männer und bis zu 150 Prostituierte hörten Ermittlern zufolge auf das Kommando des aus Mannheim stammenden Deutsch-Türken, es war ein Millionengeschäft.

Die Methode, mit der sich Baran im Rotlicht durchsetzte, ist altbewährt: Charme und Gewalt. Er umgarnte Frauen - und zwang sie schließlich in die Prostitution. "Wenn die Frauen nicht taten, was er von ihnen verlangte, hat er sie verprügelt. Seine Opfer mussten danach gleich wieder anschaffen gehen", sagt Staatsanwalt ten Kate.

Die Beamten, die Mitte der 2000er-Jahre gegen Baran vorgehen, fanden im Zuge ihrer Ermittlungen zahlreiche Belege für seine Brutalität. Fotos aus den Ermittlungsakten, die SPIEGEL ONLINE und SPIEGEL TV vorliegen, zeigen Frauen, deren Gesichter nur noch aus grün und blau verfärbten Schwellungen zu bestehen scheinen.

Video: SPIEGEL TV Magazin, Sonntag 23.15 Uhr, RTL

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"Baran misshandelte Frauen. Er erniedrigte sie. Er missbrauchte sie", sagt der Reporter John van den Heuvel, der sich seit Jahren mit dem Paten von Amsterdam befasst. Wenn Frauen zu wenig verdient hätten, seien sie etwa in eiskaltes Wasser gesetzt worden, die ganze Nacht lang, so van den Heuvel. "Einfach pure Folter, übelste Erniedrigungen, fast mittelalterlich."

Die niederländischen Ermittler stellten Baran schließlich vor Gericht. Das Urteil: sieben Jahre und neun Monate Haft - wegen der Leitung einer kriminellen Vereinigung, schwerer Körperverletzung und Menschenhandels. Später kamen in einem anderen Prozess wegen Menschenhandels noch einmal zwei Jahre und acht Monate Haft hinzu. Doch im Gefängnis saß Baran nur kurz.

Denn er heiratete hinter Gittern eine seiner Prostituierten und zeugte mit ihr ein Kind. Kaum war der Junge auf der Welt, gewährte ein Gericht Baran sechs Tage Hafturlaub, damit er seinen Sohn sehen konnte. Am dritten Tag floh der Zuhälterkönig in die Türkei. Das ist nun mehr als acht Jahre her.

Das neue Leben am Bosporus scheint ihm durchaus zu gelingen. Einem Insider zufolge beschäftigt BC an sechs Standorten in der Türkei insgesamt 100 bis 130 Mitarbeiter. Allein für die deutschen Energieriesen vermittele BC pro Monat 5000 bis 8000 Verträge. Das Unternehmen wollte sich auf Anfrage nicht zu Kunden und Geschäftszahlen äußern, teilte aber mit, dass Baran bei der BC Telekomünikasyon seit Jahren keine Rolle mehr spiele, die Abberufung gestalte sich angesichts seiner Inhaftierung aber aus formalen Gründen schwierig. Nachrichten vom E-Mail-Konto Saban Barans belegen hingegen, dass Baran noch Ende 2016 aktiv ins Tagesgeschäft seiner Callcenter eingebunden war. So schrieb er am 24. November an einen Mitarbeiter der TM bezüglich einer Kundenbeschwerde: "Wir haben den Kunden erreicht und der Agent hat sich entschuldigt. Gruss Saban."

Mit dem Gebaren der BC-Callcenter und ihrer deutschen Geschäftspartner befasst sich inzwischen die Bundesnetzagentur - es geht um unerlaubte Telefonwerbung. Im Zentrum ihrer Aufklärungsbemühungen stehen die Firmen Deutscher Energievertrieb und Energysparks aus dem Umfeld der TM Telefonmarketing. "Es läuft ein Prüfverfahren", sagt ein Behördensprecher. TM teilte mit, man wisse von einem solchen Verfahren nichts.

Vertrag gekündigt

Ein E.on-Repräsentant sagte, man distanziere sich von den Vorwürfen. "Uns gegenüber ist der besagte Herr Baran zu keiner Zeit in Erscheinung getreten." Das Unternehmen gehe sehr sorgsam mit den rechtlichen Anforderungen an Werbe-Erlaubnissen um und stelle "hohe vertragliche Maßstäbe an seine Dienstleister".

Vattenfall wiederum teilte mit, es habe keine Beauftragung oder Autorisierung von Telefonmarketingaktivitäten dieser Dienstleister gegeben. Telefonmarketing erfolge nach strikten Kriterien, jede Beauftragung von Unterdienstleistern müsse genehmigt werden, Telefonmarketing von ausländischen Dienstleistern für Vattenfall sei strikt untersagt.

Die RWE-Tochter innogy, deren Verträge Barans Callcenter ebenfalls an Mann und Frau gebracht hat, wollte sich aus Wettbewerbsgründen nicht äußern. Man verweise aber gerne darauf, "dass alle für uns tätigen Partner dazu verpflichtet sind, sich an die geltende Rechtslage sowie strenge Qualitätsvorgaben" zu halten.


Als Reaktion auf die Recherchen von SPIEGEL ONLINE und SPIEGEL TV kündigte Energysparks kurzfristig den Vertrag mit den BC-Callcentern - zum 15. November. Anlass seien die "berechtigten Anfragen zur strafrechtlichen Vergangenheit der Geschäftsführung der BC".

Noch wenige Tagen zuvor klang das ganz anders. Da sagte der Sohn und Mitarbeiter von TM-Geschäftsführerin Hannelore Picking auf die Frage, ob Barans Vergangenheit ein Problem sei: "Das ist doch seine persönliche Sache."


Sehen Sie mehr zu dem Thema im SPIEGEL TV Magazin um 23.15 Uhr auf RTL.

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Mitarbeit: Maximilian Popp